Live On Air startet eine kleine Reihe Interviews mit klugen Köpfen, die sich sonst nicht in den Headlines der Medien tummeln, aber um so mehr zu sagen haben.
Den Auftakt macht heute Matthew Gertner, Gründer, CTO und Mastermind von AllPeers. Matthews Grundthese ist der Internet-Browser als universale Anwendungsplattform. Mit dem AllPeers-Plugin erfährt der (Firefox-)Browser eine komplette Horizonterweiterung: Ich browse nicht mehr von Server zu Server, sondern peer-to-peer durch das Content-Netzwerk meiner Buddys, mit denen ich per drag-and-drop beliebigen Content "sharen" kann. (Sorry für die Anglizismenhäufung!)
AllPeers hat 2006 mit Mangrove und Index Ventures zwei der renommiertesten europäischen Investoren gewinnen können. Matthew hat die Entwicklung von AllPeers ursprünglich in Prag gestartet, sein Hauptsitz ist jetzt in UK. Als Linguist spricht er eine ganze Reihe Sprachen fließend und mit atemberaubenden Tempo, Französisch sogar mit Pariser Straßenakzent, angeblich sogar etwas Kantonesisch. Die Fragen des Interviews habe ich in Deutsch gestellt, Matthews Originalantworten waren auf Englisch.
Matthew, was macht AllPeers und woran arbeitet ihr zur Zeit?
AllPeers ist eine Firefox-Extension zur Erstellung privater File-Sharing-Communities mit Freunden und Familie. Es fügt dem Browser eine Kontaktliste als Sidebar dazu, ähnlich wie bei den bekannten Instant-Messenger-Anwendungen. Dateien, Folder, Links, fast alles kann per Drag-and-Drop auf einen Kontakt geschoben werden, und wird über unser Peer-to-Peer-Netzwerk automatisch auf dem Computer des Kontakts verfügbar.
Wir haben einige Pläne für das Produkt in den nächsten Monaten. Mit unserem Always-On-Feature wird es optional möglich werden, Dateien auf den Server hochzuladen, so daß sie auch verfügbar sind, wenn man nicht online ist. Einer der Nachteile eines P2P-Netzwerks ist, daß die Dateien deiner Kontakte nicht verfügbar sind, wenn deren Computer ausgeschaltet oder nicht mit dem Internet verbunden ist. Viele unserer Nutzer haben danach gefragt. Es wird uns auch eine neue Umsatzquelle eröffnen, da Storage über das Basiskontigent hinaus kostenpflichtig ist. Ein weiteres Feature, daß unsere Nutzer lautstark gefordert haben, ist die Möglichkeit zur Kommentierung. In der nächsten Version können die Nutzer zu jedem shared item eine Diskussion eröffnen. Wir arbeiten auch an besserer Unterstützung für Nutzer mit mehr als einem Computer (was bei mir bestimmt der Fall ist!). Bis jetzt war es erforderlich, auf jedem PC einen separaten AllPeers-Account zu haben.
Wir haben noch einiges mehr auf dem Tablett, aber es ist noch zu früh, um darüber zu sprechen.
File Sharing ist ein heikles Thema. Wie geht ihr damit um? Beschäftigt ihr einen Stab von Anwälten, um euch die klagefreudige Medienindustrie vom Leibe zu halten?
Vergiß nicht, daß AllPeers privates Sharing ist. Es geht nicht darum, Content in ein P2P-Netzwerk zu stellen, wo ihn die ganze Welt downloaden kann. Leider wird P2P so stark mit Produkten wie dem (ursprünglichen) Napster, Kazaa, Limewire und anderen assoziert, die wesentlich darauf angelegt waren, Copyright-Verletzungen zu ermöglichen. Es macht mehr Sinn, unser Produkt mit einem E-Mail-Client wie Gmail zu vergleichen, mit dem du deine Sachen an Leute schicken kannst, die du kennst. Natürlich kannst du auch an eine E-Mail über Gmail MP3s anhängen, und Google kann das praktisch nicht verhindern. Dennoch ist das nicht das Ziel von Gmail, und dasselbe gilt für AllPeers.
AllPeers ist in 15 Sprachen verfügbar, unter anderem Katalanisch. Wieviel bringt die Internationalisierung und wie organisiert ihr sie?
Internationalisierung hat eine ganz wesentliche Bedeutung für uns. Wir haben wahrscheinlich mehr Nutzer in Europa als in den USA, und wir bekommen viel Feedback in Französisch, Deutsch, Spanisch, Italienisch und anderen Fans in ihren jeweiligen Sprachen (manche davon verstehen wir auch). Wir hätten auf keinen Fall die gleiche Popularität erreicht, wäre das Produkt nur in Englisch verfügbar.
Wir sind sehr stolz auf unsere Lokalisierungs-Community [die lokale Anpassungen wie Übersetzungen vornimmt]. Wir haben uns einer bestehenden Community namens Babelzilla angeschlossen, die dediziert Firefox-Erweiterungen übersetzt. Unsere Nutzer haben das begeistert aufgenommen und angefangen, zu übersetzen. Dies ist vielleicht auch ein Ergebnis unserer Beziehung zu Mozilla, und daß wir Open Source sind. Die Nutzer erkennen es an, wenn du ihnen ein qualititiv hochwertiges Produkt frei gibst, und sie wollen dir etwas zurückgeben.
Du hast gerade ein neues Blog mit dem Titel Just Browsing zur Zukunft des Web Browsing gestartet.
Der vielversprechende Untertitel lautet im Original "A narrative on the future of web browsers and web browsing".
Was bedeutet die Diskussion um die künftige Entwicklung der Browser für den Laien, der mit Themen wie Rückwärtskompatibilität von Ecmascript oder Standardisierung von Comet herzlich wenig anfangen kann?
Für den Laien ist die wichtigste Implikation des Erfolgs der Webanwendungen, daß die Computer einfacher zu benutzen werden. Installation und Wartung von Anwendungen ist selbst für Experten eine große Last: sonderbare Inkompatibilitäten entstehen zwischen den Anwendungen, die hart zu diagnostizieren und zu beheben sind. Einige wenige Konventionen sind erforderlich, um User Interfaces konsistent und verständlich zu machen. Webanwendungen müssen nicht installiert werden, man kann mit ihnen sofort loslegen. Sie können sich nicht mit anderen Programmen auf dem Computer in die Quere kommen. Sie wurden für das "Web-Paradigma" entworfen und sind einfacher zu nutzen als Desktop-Anwendungen.
Natürlich ist dieser Trend schon voll im Gang, mit der ganzen Aufregung um Ajax-Anwendungen. Aber es fehlen noch einige große Stücke im Puzzle. Auf Just Browsing vertiefe ich, was noch gebraucht wird, und wie es wohl zustande kommen wird. Ich erwarte 2008 sehr viel Aktivität in diesem Bereich.
Wie relevant sind diese Themen für den Startup-Unternehmer oder Investor? Ermöglichen sie grundlegend neue Anwendungen und Geschäftsmodelle?
Absolut ja. Es ist nichts besonders neues, jeder sagt das, aber es ist absolut wahr. Neue Anwendungen können billiger und schneller entwickelt und auf den Markt gebracht werden, als jemals zuvor. Die Anfangsinvestitionen sind viel geringer, also brauchst du zu Start viel weniger Kapital. Projekte, die früher eine großes Funding von einem VC erfordert haben, können jetzt mit einem viel kleineren Funding aus einer Business-Angel-Runde oder sogar von Freunden und Familie unternommen werden. Was das Geschäftsmodell angeht, muß noch ein weiter Weg zurückgelegt werden, da durch Google alle Welt besessen ist mit Advertising. Ich glaube nicht, daß Ads für jede Webcompany ein angemessenes oder ausreichendes Geschäftsmodell sind. Das ist ein weiterer Bereich, wo ich glaube, daß 2008 mehr Klarheit bringen wird.
Seit dem Netscape Navigator, der gerade beerdigt wurde, gab es in der Browserwelt nur wenig durchschlagende Fortschritte - mir fallen jetzt nur CSS und AJAX ein. Für Anwendungsentwickler ist der Browser nach 10 Jahren immer noch ein Alptraum, wenn man über die Basisfunktionalität hinauswill, um wie AllPeers P2P Connectivity zu realisieren oder wie wir bei 1000MIKES Realtime Audio. Die Optionen sind entweder instabil, nicht plattformübergreifend verfügbar, erfordern umfangreiche Downloads oder führen in eine abgeschlossene Welt wie Flash. Warum ist das so, und wie kann sich das ändern?
Eines der größten Probleme ist der Erhaltung von Rückwärtskompatibilität über die ganze Palette von Browsern, die verfügbar sind. Mozilla oder Opera oder ein anderer großer Browserentwickler hat vielleich eine fantastische Idee um das eine oder andere Problem, daß du ansprichst, anzugehen, aber wenn dadurch die Mehrheit der Websurfer, die einen anderen Browser benutzen, ausgeschlossen wird, ist sie ein Rohrkrepierer. Daher ist der Fortschritt langsamer als wir es gerne hätten, aber er findet trotzdem statt. Mozilla hat dabei mit Innovationen wie dem Ecosystem der Firefoxerweiterungen eine enorme Rolle gespiel. Ich erwarte, daß Javascript 2 ein wesentlicher Schritt sein wird, Webanwendungen schneller und stabiler zu machen. Ich glaube auch, daß die Arbeit von Adobe sehr vielversprechend ist, insbesondere wenn sie sich öffnen und ihre abgeschlossene Welt - um deinen Ausdruck zu benutzen - verlassen. Natürlich, die End User werden das weder verstehen, noch sich darum kümmern. Sie werden nur feststellen, daß ihre Webanwendungen besser werden.
Ist es realistisch, daß die Browsertechnologien der Zukunft, die du auf deinem Blog diskutierst, noch zu unseren Lebzeiten breit verfügbar sein werden? Als Anwender ist mein Verdacht, daß die Entwickler-Community lieber ideologische Hahnenkämpfe ausfechtet, statt die bestehende Technologien so auszubauen, daß sie breit verfügbar sind und die notwendige Stabilität bieten.
Eine meiner liebsten Beobachtungen über menschliche Wesen ist, daß wir das Kurzfristige überschätzen und das Langfristige unterschätzen. Es gibt wenig Zweifel, daß die Veränderungen, über die ich schreibe, länger brauchen werden als erwartet. Das mußt du dann noch mal verdoppeln, da ich ein Optimist bin. Nichtsdestoweniger, wir werden in den nächsten 3-5 Jahren einen großen Fortschritt sehen. Und langfristig können wir uns wahrscheinlich nicht einmal vorstellen, was die Browsertechnologie noch hervorbringen wird. Das einzige, was ich garantieren kann, ist daß ich in meinem neuen Blog auf lange Zeit genügend zu schreiben haben werde.
Vielen Dank! Ich freue mich auf die Lektüre von Just Browsing.
Thanks for the great questions!
(Foto von Matthew: Michael Creutziger)
Update 03.03.2008: Die Investoren von AllPeers haben ihre Unterstützung eingestellt und AllPeers mußte überraschend seinen Betrieb einstellen.